Sonntag, 2. August 2009

Führerdienst

Selbstverständnis
Die Gruppenführer sind zu einer Vorbildhaften Lebensführung verpflichtet, sie entscheiden über die Gruppe, bewahren die Grundsätze des Pfadfindertums, führen die Gruppen und tragen Achtung vor den Jungens, die ihm anvertraut sind.
Führen ist nicht das Recht zu Befehlen, sondern die Pflicht zum Vorleben.
Pfadfinder sein muß niemand, erst recht nicht Führer sein. Aber wer Pfadfinder und erst recht wer Führer ist, muß in der Gruppe und selbst im Alltagsleben eines tun und lassen, was der "Normalverbraucher" nicht muß. Er muß es, weil er es auf seine Ehre versprochen hat im Namen Gottes und seiner Gemeinschaft.

Wie bist Du ?
Bist Du vielleicht ähnlich wie mein alter Sippenführer Ferdi, ein aufrechter Mensch, jedem einzelnen ganz zu gewandt; nie einen Wort von uns nur halb zuhörend; immer uns voll ganz ernst nehmend, auch wenn wir klein, schäbig, albern, egoistisch oder gar bösartig waren; immer da für jeden von uns.
Dabei war er nicht außergewöhnlich in seinen Kräften, seinem Aussehen, seinen Fähigkeiten als Junge. Bist Du vielleicht ähnlich meinem alten Sippenführer Ferdi, der in meinem Jungenleben die entscheidende Rolle spielte, dessen Ja oder Nein für mich maßgeblich war, in dessen Gegenwart ich glücklich war, auch wenn er kein Wort zu mir sagte; in dessen Gegenwart ich größer wurde und über mich hinaus wuchs mit dem Eindruck, etwas unendlich wertvolles zu besitzen; dem ich einmal nach einem wildem, heissen Fahrtentag im Böhmerwald, als wir abends an einem der vielen Seen saßen, todmüde aber froh, gesagt habe: "Ferdi, ich möchte am liebsten immer bei dir sein und mit dir überall hingehen, wo du möchtest."

Sommer aber bald wird sich der Herbst erheben

Der g r a u e A l l t a g verschluckt uns und mit ihm kommt Winterzeit. Ich komme aus Kreta zurück, die Großfahrt ist vorbei.
Vorbei sind die Stunden und Tage am Lybischen Meer, vorbei die weißen Berge und die Nida Hochebene, wo einst die Götter geboren wurden und gelebt haben, vorbei der milde Wind, vorbei die Stunden der Fahrt, vorbei ist nun die Großfahrt.
Gebannt schauen wir auf den Winter, morgendlicher Nebel, Eis auf den Straßen, der Boden hart, der Sinn vertrübt von den vielen Wolken und doch ein Licht voraus.
Die Adventszeit, die Waldweihnacht, das Thing der Stämme. Wir stellen uns Fragen, nach dem Sinn. Haben wir das Richtige getan?
Habe ich das Richtige getan?
Verstaubt öffnete ich meine Wohnungstür, der Affe fliegt ins Wohnzimmer und während das heiße Wasser der Dusche mich langsam in die graue Realität holt, lache ich.
Ich verlache die anderen, die, die es nicht erfahren haben, den Wind, die Weite, die Qual der Steine.
Die Einsamkeit meiner Wohnung erfasst mich, keine Pimpfenstimmen mehr zu hören, kein dummer Spruch fällt, es wird ruhig um mich, unheimlich ruhig, und die Gewissheit, dass alles wieder vorbei ist, macht mich wahnsinnig. Schnell einen griechischen Kaffee machen. Über zehn Tage schleppte ich diesen Kaffee in der Klampfenhülle über Berg und Stein, jetzt im Nordland genieße ich ihn Stück für Stück und es erwacht die Freude der Fahrt für Sekunden.
Sebl, Du bist wieder zurück! Zurück in einer Welt, die ich bewusst verlassen habe.
Es ziehen sich die Tage dahin, ich vertreibe mir meine Zeit und merke, dass ich Zeit verliere. Ich bin wieder da in dieser Welt, ich gehe abends weg und mache irgendwelches Zeugs und fasse mich an den Kopf. Habe ich das Richtige getan? Alle anderen tun immer das Richtige. richtig feiern, richtig flirten, ein bisschen richtig arbeiten. Das soll alles sein? Wo ist der Sinn?
Ich habe ihn gefunden, und er liegt nicht in der Oberflächlichkeit des Pausen- oder Biergespräches, trotzdem stimme ich in die Oberflächlichkeit ein als Beobachter und agent provocateur, spiele mit ihr und weiß im Herzen, dass ich anders bin.
Ich gehe den schwierigen Weg, den Weg des Pfadfinders. Ich suche, ich zweifele, ich frage nach, ich denke, ich mühe mich ab, ich hinterfrage, ich stelle fest.
Was stellst Du fest, sebl? Ich bin umgeben von Oberflächlichkeit, Pseudofreundlichkeit und Unverbindlichkeit, die ganze Welt ist schlecht! Nein, nicht die ganze, aber wir entwickeln uns langsam, aber sicher, zu einer schlechten Welt. Dagegen will ich angehen, dagegen will ich kämpfen mit Herz und Hand. Doch dafür muss ich hin und wieder Abstand von ihr nehmen.
Und bewusst werde ich sie wieder verlassen, um auf Fahrt zu gehen.
Auf dem Weg von meiner Arbeit zu meiner Wohnung erklingt in der Dämmerung über mir der Schrei von Wildgänsen, sie rauschen durch die Nacht in den Süden. Ich will fliegen, doch ich muss bleiben. Aber bald fängt es wieder an. Es wird wieder anfangen im neuen Jahr, dann ziehe ich hinaus aus meiner Welt mit Euch, meinen Brüdern und Schwestern, in die andere Welt, die so anders und so viel freundlicher ist als das, was man Realität nennt.
Sie ist die bewusste Realität, weg von der Gleichgültigkeit der Menschen in eine Gemeinschaft von Menschen, die wissen, dass sie das Richtige getan haben und tun werden.
Lieber Romin,

es ist schon lange her seit dem wir gemeinsam am Feuer saßen. In der Zwischenzeit hat sich einiges getan. Wie Du weißt habe ich noch mal den Aufbruch gewagt, Pimpfe gekeilt und mich ins volle Abenteuer gestürzt. Heute sind viele der Pimpfe im Bund "alt" geworden. Neue sind dazugekommen, und wenn auch unsere so edlen Ziele die selben geblieben sind, einiges hat sich verändert, mein Bruder Romin.
Du erinnerst Dich sicherlich, es war in einer Sippenstunde 1985, da bekam ich den Auftrag für die Sippe einen Ball zu kaufen, ich verschleppte diesen Auftrag und mein Sippenführer, Du kennst ihn, er der immer in kurzer Hose durch die Gegend herumstolziert ist, war enttäuscht und beurteilte mich folgendermaßen: Du bist nicht zuverlässig!

Ich spürte einen "Kloß" in meinem Hals stecken, mein Puls schoß in die Höhe. Ich war getroffen worden, obwohl ich es verdient hatte. In seinen Augen war ich "nichts" mehr, meine Ehre war dahin, ich fühlte mich elend und wurde rot. Du bist nicht zuverlässig, dieses Wort höre ich noch heute in meinem Ohr. Nach einiger Zeit hatte ich es geschafft und meine Ehre war wieder hergestellt. Ich habe dass Gegenteil bewiesen. Und wie Du ja siehst, der kleine unzuverlässige Pimpf steht jetzt im Führerdienst und ist verantwortlich für einen ganzen Bund.
Früher war dass so, Du weißt es und könnest mir auch viele Geschichten erzählen aus diesen Zeiten.
Heute diene ich als Führer und ich muss auch urteilen. "Du bist unzuverlässig" Deine "Ehre ist dahin" Diese Worte habe ich tausendfach ausgesprochen und ich habe mir die Wortwahl gut überlegt, aber der Betroffene wurde weder rot noch zeigte er
eine Emotion. Naja, Du weißt es auch aus eigener Erfahrung, es gibt Pimpfe, die niemals rot werden, lediglich rote Ohren bekommen, andere versuchen kühl zu bleiben aber trotzdem: früher sah ich eine Emotion, und heute hat kaum noch einer ein schlechtes Gewissen oder versucht seine Ehre wiederherzustellen! Die Gleichgültigkeit ist eine moderne Krankheit.
Gleichgültigkeit zerstört, macht uns stumpf wie ein altes Fahrtenmesser, das mehr verletzt als die blitzende scharfe Klinge, die "entscheidet" und nicht verletzt. Obwohl nur 20 Jahre vergangen sind, hat sich vieles geändert.

Erinnerst Du dich, als wir damals, stolz wie Spanier, in der Schule mit Juja und Lederhose in der Klasse saßen und wir nicht alleine waren. Wir bemühten uns, außerhalb des Gruppenlebens irgendwie anders zu sein, gerechter, edler und klarer als der in der Klasse schwimmende Mob der Bequemlichkeit.
Heute unterscheiden sich unsere Pimpfe kaum von den gammligen Schülern, die mit abgedrehtem konsumgesteuerten
Outfit rauchender Weise und mit 15 bereits eine Alkoholvergiftung schon heldenhaft überstanden haben, in der Schule "abpimmlen". Verzeih mir, Bruder, Du weißt die soldatische Sprache liegt mir näher als eine sozial pädagogische Sprache, die so schwammig ist, dass sie nicht konkret das auf den Punkt bringt, was gemeint ist, und lediglich relativiert.

Erinnerst Du Dich an die 14/15-Jährigen damals bei uns? Viele zogen es vor, unsere Gruppen zu verlassen, da der Sport, die Anstrengung mehr reizte als das Wandern. Diese Diskussionen immer um diese Zeit gab es damals auch, aber irgendwann hatten sie verstanden, dass Sport alleine nicht zur ganzheitlichen Ausbildung dient. Daraufhin änderten wir unseren Fahrtenstil. Härte wurde zur Kultur. Die Fahrten erreichten Dimensionen, die kein Erwachsener sich vorstellen konnte und wo man zu Hause auch nicht darüber sprach, weil zum einem es uns keiner glaubte und zum anderem unser armer Gruppenführer von elterlichen Anrufen überschüttet worden wäre.
Unsere Fahrten waren hart, unsere Disziplin ehrlich. Heute ist Härte vorgespielte Dressur und keine Kultur mehr. Rückenschmerzen und Muskelkater, Du weißt noch, wie stolz wir mit dem Affen auf Fahrt gingen, aus der Einfachheit unseres Handelns ..... Auch da wirst Du mir bestimmt zustimmen und lächeln, weil wir anders sein wollten irgendwie - so wie die
Jungen, die damals in den 20 er und 50 er Jahren aufgebrochen sind.
Romin, hast Du eigentlich Rückenprobleme? Mensch, ich habe welche vom Sitzen. Du lachst, ja vom Sitzen, aber nicht, wenn ich laufe oder auf Fahrt bin. Ich fühle mich auch fit und es ist eigentlich für uns als Christen und Bündische die Pflicht, unsere äußere Hülle zu pflegen, sie an Widerstände reiben zu lassen, mit dem Körper Gottesdienst zu feiern.
Im letztem Jahr, Du weißt ja, ich bin alter Reserve-Soldat; ich weiß, dass Du eine andere Meinung darüber hast als ich, obwohl Du auch eine soldatische Einstellung hast.
Saint Exupéry, unser Lieblingsautor, sagte einmal, ich glaube, es war in Wind, Sand und Sterne, dass man keiner Kriege bedarf um eine soldatische Haltung anzunehmen. Eine Haltung der Zuverlässigekeit, der Hilfsbereitschaft, der Härte zu sich selbst, der Barmherzigkeit, der Verbindlichkeit...
Ich schweife schon wieder ab, tut mir leid!
Der "grüne Haufen" hat mich immer fasziniert, die Gemeinschaft von wehrhaften Männern, aber das nur am Rande, Du hast die Geschichten aufmerksam und geduldig gehört. Hier aber noch eine kleine Geschichte, die weiter zeigt, dass wir langsam dem Untergang verschrieben sind, ich übertreibe hier bewusst, aber dass weißt Du ja.

Ich hatte mit Rekruten im Alter von 18-20 Jahren 3000 m zu laufen. Mit diesen Männern? Ich hatte Bedenken, dass ich es in der vorgegebenen Zeit nicht schaffe. Denn, wie wir alle wissen, gehört zum Führerdasein tadelloses Vorbildverhalten, so weit es geht, und auch im Sport. Den Lauf absolvierte ich in 11:47 Min., obwohl ich der Älteste war. Der Rest meiner Männer
brach zusammen oder scheiterte an der Zeit. Junge Burschen mit 18 und 20 Jahren, mein Gott, wo kommen wir denn hin, wenn wir nicht mehr kleine Strecken laufen können. Gott hat uns die Fähigkeit gegeben, aufrecht zu gehen, und wir nutzen sie nicht, fallen bei jeder Anstrengung gleich auf die Nase. Ich war erstaunt. Aber eines darf ich nicht verschweigen, dass
unsere Pimpfe sich in dieser Hinsicht bemühen. 80 Km in 20 Stunden haben einige geschafft, sie sind ehrgeizig, andere aber sind träge und unmotiviert, aber vielleicht motivieren wir nicht genug? Viele der 14-Jährigen und älteren Knappen sind träge, körperlich wie auch geistig!, unsportlich, und haben nicht den Willen, es zu ändern.
Damals waren die Sippen heldenhaft. Auch ein Held hat Schwächen, aber seine Einstellung, alles zu schaffen, macht die Schwächen wieder wett. Der Sippenführer war Vorbild. Heute haben wir so wenige Vorbilder, aber viele Abbilder der
Gesellschaft.
Du kennst auch das Buch unseres alten Freundes "Skymaster 857". Wie haben wir uns an dieser Geschichte hochgeschaukelt. Die Geschichte einer Elite-Einheit bei den französischen Pfadfindern, den Raiders-Scouts. Und obwohl die Geschichte uralt ist, hat sie an Aktualität nicht verloren. Wir brauchen keine Angst zu haben vor Terrorismus, Islam in unserer Gesellschaft, wir selbst zerstören unser aufgebautes Abendland, durch unsere Gleichgültigkeit und den Glauben an eine konsum- und
mediengesteuerte schnelllebige Zeit - ohne Werte und Ziele.

Unsere Gemeinschaft muss ein Bollwerk bilden.
Heute sehnen sich viele nach der Gestalt des Raiders, aber die meisten scheitern an der Knappen- oder Späherprobe.
Aber es gibt auch Schönes zu berichten. Es gibt ín unseren Gruppen auch Momente der Freude. Das Gefühl der Freundschaft, das Gefühl des "Bezwingens", die Momente des Geistes und das Bewusstsein, dass wir einen anderen Weg gehen, der freiwillig gewählt ist, nach Widerständen sucht und nach einem authentischen und kraftvollem Pfadfindertum strebt.
Mann, Romin, vielleicht war ich zu "hart" mit meinen Feststellungen, aber Du wirst sie, ich hoffe es, genauso sehen.

Keine Party, keine schulische Veranstaltung, kein anderes Vergnügen haben wir vorgezogen. Die martialische Gemeinschaft, das nächtliche Kothenfeuer, die Lieder und die Gespräche zogen uns mehr an. Wir waren gewiß nicht Engel, haben manches mitgemacht und erkannt, dass das Leben noch mehr versteckt hält als man denkt. Das Versteckte ist zu erforschen. Heute wird eine Party der Kothenfahrt vorgezogen. Das intensive Leben wird durch das exzessive Leben ersetzt. Welch Jammergestalten treiben sich auf den Veranstaltungen der staatlichen Jugendhäuser rum. Mit Vollgas Spaß haben. Super! Diese angepaßten Gestalten.
Ich musste vorhin lachen, da mir einfiel, dass wir auf Taunusfahrt die zahlenmäßig überlegene Spaßdorfjugend aufgemischt haben. Die Aktion war nicht in Ordnung, aber wir hatten im Vergleich zu heute ein starkes Selbstbewusstsein. Heute wiederrum sehe ich viele Gruppen, die sich vor Kritikern oder Gegnern rechtfertigen müssen. Das Selbstbewusstsein in
einigen Bünden ist dahin. Wir dürfen uns nicht schämen, wir müssen stolz sein auf das bündische Pfadfindertum, was wir mit Leben und Stolz erfüllen.

Egal, ich schreibe Dir, weil ich einiges aussprechen muss und Du, der leider weit weg bist, mir nicht zuhören kannst. Ich freue mich auf einen Brief.
Bitte benutze nicht die elektronische Form. In der Email wird so häufig unüberlegtes Zeug geschrieben, man gibt sich zu wenig Mühe im Email-Briefeschreiben. Die Kunst des Schreibens, ich beherrsche sie leider auch nicht besonders, geht in den Bünden dank email langsam verloren. Schade !

Laß diesen Brief nicht irgendwo liegen, denn einige könnten sich durch diese Zeilen angegriffen fühlen. Die Eltern könnten sich gekränkt fühlen, weil sie teilsweise in der Erziehung ihrer Kinder auch versagt haben.

Laß uns weiterarbeiten an unserem Werk, an unserer Wanderschaft durch das große Leben. Wir wollen das Leben groß machen! Und dafür brauchen wir Widerstände, an denen wir wachsen, damit wir uns für unsere Mitmenschen besser einsetzen können.